exhibition with Marie Athenstaedt
OPENING SPEECH
BY ELISE BEUTNER
Wenn ich zu einer Ausstellung komme – erst recht, wenn ich hinterher dazu Rede und Antwort stehen soll – fühle ich mich immer ein wenig wie ein Dorfpolizist vor einer idyllischen Kulisse, der zu einem Tatort gerufen wird.
Wer war das, was ist hier passiert, und bloß nichts anfassen.
Wir befinden uns in den repräsentativen Geschäftsräumen der international tätigen Wirtschaftkanzlei Noerr. In diesen Räumen werden normalerweise Konzerne bei Übernahmen oder Umstrukturierungen beraten. Dementsprechend transportieren sie Seriösität und weltgewandte Klarheit, ihre sachliche Gestaltung spiegelt die Rolle wider, in der sich die Kanzlei gegenüber der Geschäftswelt und ihren Mandanten sieht.
Heute findet hier aber eine ganz andere Art der Übernahme statt.
Zwischen den großen schwarzen Bildschirmen und klaren Linien sind 35 einzelne Kunstwerke, Malereien und Zeichnungen, getreten und fordern Sie, uns, zu einem Dialog heraus. Es sind zwei Welten, die hier mit dieser Ausstellung, ich will gar nicht sagen kollidieren, sondern kontrolliert ineinandergreifen.
Um bei dieser Begegnung zu vermitteln, werde ich Ihnen einerseits die beiden Künstlerinnen und ihre Positionen vorstellen, und andererseits drei Gedanken anbieten, mit denen Sie sich beim Weg durch die Ausstellung den Arbeiten nähern können, wenn Sie möchten.
Egal wie kunstaffin Sie sind, Sie werden vermutlich keinerlei Schwierigkeiten haben, beide Positionen voneinander zu unterscheiden.
Marie Athenstaedts künstlerische Arbeit ist durch großformatige, dynamische Malereien und eindringliche Farbnebel charakterisiert. Hier zeigt sie außerdem eine Serie von einfarbigen Acrylmalereien, die durch Drucktechnik und Übermalungen entstanden sind. Sie hat an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden studiert und dort 2014 ihr Diplom abgeschlossen, 2016 folgte ihr Meisterschülerstudium, beides in der Fachklasse von Prof. Macketanz.
Schon im Eingangsraum sind sie an den aus feinen Linien ziselierten, großformatigen Zeichnungen von Lisa Pahlke vorbeigekommen. Sie hat 2015 nach dem Studium der bildenden Kunst bei Carl Emanuel Wolff und Monika Brandmeier ebenfalls an der HfBK Dresden Diplom gemacht, danach war sie Meisterschülerin bei Christian Macketanz. Seit 2017 wird sie von der Galerie Gebrüder Lehmann vertreten. Beide Künstlerinnen zeigen ihre Arbeiten auf Ausstellungen im In- und Ausland – zur Zeit sind sie ebenfalls gemeinsam in Düsseldorf in der Ausstellung „Neue Brücke“ im nordrhein-westfälischen Landtag vertreten.
Das verbindende Element in unseren Biografien wird Ihnen vermutlich nicht entgangen sein, beide haben an der HfBK Dresden in der Klasse von Christian Macketanz studiert, genau wie ich. Ich habe dann einige Jahre nach Ihnen mein Diplom gemacht und ihre künstlerische Entwicklung sozusagen aus der Perspektive der jüngeren nachfolgenden Künstlerin beobachtet.
Und wenn ich beiden einen gemeinsamen Hashtag zuordnen müsste, dann wäre es #Bildraum. Beide Künstlerinnen entwickeln ihre Kompositionen aus einem sehr verfeinerten Raumgefühl heraus. Dieses Gespür für und dieser Fokus auf die dritte Dimension, die über den Rahmen des zweidimensionalen Bildträgern hinausgeht, kommt nicht von ungefähr. Lisa Pahlke begann ihre künstlerische Ausbildung in der Bildhauerei. Und auch in Ihren Zeichnungen tasten die Geflechte aus sich überlagernden farbigen Linien in den Bildraum hinein, als gäbe es tatsächlich Gravitation und Tiefe im Weiß des Papieres, als könnten Linien fallen und klettern, sie werden zu gefalteten Texturen und landkartenartigen Topografien unbestimmten Ursprungs. In großen Formaten konkurrieren sie sogar selbstbewusst mit dem physischen Raum. Die beiden Zeichnungen im Eingangsbereich scheinen beinahe architektonische Elemente zu sein, die nicht die Wände gestalten, sondern den Raum mitformen.
Den Raum mit malerischen Mitteln selbst zu definieren ist auch bei Marie Athenstaedt ein zentrales Anliegen: parallel zur Bildenden Kunst studierte sie mehrere Jahre Architektur und widmete sich der malerischen Untersuchung großformatiger Farbflächen, kosmische Farbnebel, die jedem Element zur Verankerung in Gegenständlichkeit entbehren. Es gibt keinerlei Hinweis auf eine Größenordnung oder Perspektivität. Selbst die hinzugefügten Aussparungen, wie hier bei der Serie „A forest fire“, fügen nur auf den ersten Blick ein Indiz hinzu. Wir bleiben beim Betrachten zurückgeworfen auf das Erleben der Farbigkeit und unsere eigenen rätselnden Assoziationen. Nach dem Ursprung ihrer Entscheidung für diese malerische Entsprechung kosmischer Unendlichkeit gefragt, sagt Marie Athenstaedt:
„Das „Dazwischen“ der Raum um das architektonische Modell, um den Gegenstand herum ist für mich faszinierender als das Modell selbst. Dieses präzise Verfolgen von einem „Dazwischen“ einem Zustand des im Entstehen inbegriffenen und seine Fixierung als Bild ist ein zweiter Verbindungspunkt, der die Arbeiten hier harmonisch nebeneinanderstehen lässt. Keine legt ein Veto gegen die räumliche Hypothese der anderen ein, eher bestärken sie sich gegenseitig wie experimentierfreudige Wissenschaftler. Auch Lisa Pahlkes Arbeitsprozess ist gekennzeichnet von einem ständigen Bestreben, weg von der Figur zu kommen, eine Bildkomposition aufzuladen und ihr gleichzeitig alle Referenzen soweit wie möglich zu entziehen. Sie versucht sich dabei im Zeichnen einem inneren Bild anzunähern und einer Vergegenständlichung entgegenzuarbeiten.
Diese Suche nach einem poetischen Zwischenzustand erklärt auch den Titel der Ausstellung: „From day to dark, from night to light“. Das klingt ein bisschen nach Bob Dylan, ein bisschen nach einem willkürlich zerschnittenen und zusammengewürfelten Gedicht von William Burroughs im Stil der Beat Generation. Poesie, die die Präzision verweigert, aber gerade soviel preisgibt, dass es um Transformation und Kontrast geht.
„I don‘t paint nature, I am nature“ ich male nicht nach der Natur, ich bin die Natur. – dieses berühmte Zitat von Jackson Pollock fiel mir ein, als die beiden Künstlerinnen beide gleich konsterniert reagierten, als ich ihre Arbeiten als „abstrakt“ bezeichnete – weswegen ich diesen Begriff heute Abend auch nur an dieser Stelle verwende.
Pollocks Ausspruch lässt sich unter anderem so interpretieren, dass die inneren Prozesse, die zur Entstehung eines Kunstwerkes gehören, wie der Künstler selbst, realer Teil der natürlichen Welt sind, und dass der künstlerische Ausdruck dieser inneren Vorgänge sie gleichermaßen abbildet und daher nicht wirklich abstrakt sein kann.
In diesem Sinne lösen Künstlerinnen ebenso konkrete Probleme wie Wissenschaftler – nur mit anderen Mitteln.
So jedenfalls sieht es Eric Kandel, ein Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger, der gleichzeitig großer Kunstliebhaber ist und intensiv zu biologischen Prozessen in der Kunstwahrnehmung geforscht hat.
Je weniger gegenständlich ein Kunstwerk ist, desto größer ist die kreative Leistung beim Betrachten. Eric Kandel formuliert es so: je weniger gegenständlich ein Kunstwerk ist, desto mehr erlaubt es unserem Gehirn, sich zu wundern.
Und Wundern, dieses neutrale, sanftmütige Nichtwissen, dieser Schwebezustand nach dem Wahrnehmen aber vorm Erkennen, erfüllt uns, wenn wir das zulassen - so Herr Kandel - mit Freude. Wie oft haben Sie in Ihrem Alltag die Gelegenheit, sich diesem Zustand des Nicht-Wissens und Nicht-Wissen-Müssens hinzugeben? Wahrhaftig, aber ohne negative Konsequenzen.
Als abschließendes praktisches Beispiel möchte ich noch meine Lieblingsbilder in dieser Ausstellung auf die Bühne holen: es ist ein auf den ersten Blick unspektakuläres Paar im hinteren Flur, fast ganz am Ende der Ausstellung.
Zwei kleinere Formate, das eine schwarz bedruckte, rohe Leinwand, das andere ein intensiv farbiger Siebdruck. Auf beiden sind Einschnitte, ein Dickicht, vielleicht irgendwie geartete Spuren zu sehen, und trotz der unterschiedlichen Gestaltung gibt es einen Gleichklang zwischen beiden.
Als wären das eine ein Artefakt des jeweils anderen. Wie ein Mensch, der mit seinem eigenen Röntgenbild posiert. Sie wirken wie zwei sympathische Geschwister, die völlig unterschiedliche Berufe ergriffen haben. Beide Bilder sind völlig unabhängig voneinander entstanden und scheinen dennoch zwischen sich eine geheime Geschichte zu erzählen, die mir so eindrücklich erscheint, dass ich sie allzu gern für Sie in Worte fassen würde.
Aber ich kann nicht, denn, um auf mein Bild vom Anfang zurückzukommen:
Wenn jede Ausstellung ein Tatort ist, ein Rätsel, dass es zu entschlüsseln gilt, dann ist jede neue Lösung, auf die jeder von uns kommt, gleichzeitig für einen kurzen Moment wahr und der Fall als solches auf ewig unlösbar.
This beauty will soon be on display in the Saxon state parliament.
I'm very thankful for that fantastic place and framing!